Die Wahrheit

Madame

Mein Verhalten in dieser Angelegenheit ist nicht zu entschuldigen, das weiß ich. Ich erzähle die Geschichte trotzdem und sei es, um zu versichern, dass ich keinen Groll gegen die Madame hege. Ich schätze sie sehr. Bei allem, was ich ihr antat, dachte ich an mich, an meinen eigenen Vorteil. Ich wünschte, es gäbe einen Weg, in unserem Metier Außergewöhnliches zu schaffen, ohne die eigenen Prinzipien zu verraten. Mir ist das nicht gelungen.

„Wenn du Galducci noch erleben willst, ehe sie stirbt, dann beeil dich! Drogen und Alkohol. Lange macht sie’s nicht mehr.“

Das hatte mir der Zauberkünstler auf unserem Stadtfest gesagt, als ich sechs Jahre alt gewesen war.

20 Jahre später lebte Galducci noch immer und ich hatte sie noch immer nicht gesehen. Sie gab prinzipiell keine öffentlichen Vorstellungen, sondern lediglich „Audienzen“. Wer sie besuchen wollte, musste handschriftlich um eine Einladung bitten und 6000 Euro zahlen (früher waren es 500000 Slowenische Tolar gewesen, also gut ein Drittel der heutigen Summe). Es blieb ein Geheimnis, was genau Galducci während dieser Audienzen tat. Die Gerüchte reichten von „sie lehrt ihre Gäste das Fliegen“ bis zu „sie tötet sie mit Blicken und verspeist ihre Überreste“. Letzteres hielt ich für abwegig, da ich mehreren Menschen begegnet war, die sie besucht hatten und heil wieder zurück gekommen waren. Die hüllten sich jedoch in Schweigen.
Kurz nach meinem 27. Geburtstag wurde mein seniler Großonkel im Altersheim von einem Bett überfahren und ich erbte 6001 Euro und 70 Cent. Das reichte für eine Kugel Premium-Schokoladeneis in der Waffel und eine Einladung in die Villa Galducci.

Die Eingangstür öffnete sich in ein rundes Vestibül, von dem sechs weitere Türen abgingen. Sie waren mit kleinen Messingschildern versehen: ASTROLOGIE, CHIROMANTIE, PSYCHOKINESE, TAROT, ALCHEMIE und BIBLIOTHEK. Ich klopfte an die letzte Tür.
„Treten Sie ein!“
In der Bibliothek roch es nach Leder und altem Erlenholz (dass es Erle war, erklärte die Madame später – mir würde es im Traum nicht einfallen, einen Baum am Geruch zu erkennen). Galducci saß an einem kleinen Tisch und trank aus einem Kognak-Schwenker. Sie sah aus, wie eine sechzigjährige Frau, die aussah, wie eine neunzigjährige Frau.
„Wie war Ihr Name doch gleich?“
Ich nannte meinen Namen. „Es ist mir eine Ehre, Madame Galducci“, fügte ich hinzu.
„Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir! Verzeihen Sie, dass ich nicht aufstehe! Rotwein? Weißwein? Whiskey? Was trinken Sie?“
„Für mich nichts, danke.“
„Wie Sie meinen, Herr… äh… Was führt Sie zu mir? Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ihr Ruf, Madame Galducci, führt mich zu Ihnen! Man sagte mir, Sie seien die größte Zauberkünstlerin, die je gelebt hat.“
„Haben Sie die Schilder der anderen fünf Türen gelesen? Jedes steht für eine magische Wissenschaft und jede Tür führt in ein Labor. Wir werden heute abend eines nach dem anderen besuchen. Sie werden sehen, dass die Möglichkeiten menschlicher Kunst alles übertreffen, was Ihre zaghafte Fantasie sich zu erträumen in der Lage ist. Wenn Sie mich dann noch immer eine Zauberkünstlerin nennen, werde ich sehr gekränkt sein.“
„Verzeihen Sie bitte!“
„Machen Sie sich keine Gedanken! Sie werden mich stützen müssen.“
Zuerst führte sie mich – oder besser: ich sie – in das Tarot-Zimmer. In Regalen und Kisten, auf Tischen und dem Fußboden stapelten sich tausende, vielleicht hunderttausende, Etuis, Schächtelchen und Dosen mit Tarot-Karten. Ich glaubte, mich mit dieser Art Wahrsagerei auszukennen. Ich hielt sie für eine Mischung aus Betrug und Selbstbetrug. Doch was die Madame aus den Karten las, lößte meine Gewissheiten in Rauch auf. So erging es mir in jedem der fünf Räume. Galducci beherrschte entweder Methoden der Täuschung, von denen ich nie auch nur gehört hatte, oder aber (und das erschien mir immer wahrscheinlicher), sie konnte tatsächlich zaubern.
Leider fiel es mir zunehmend schwer, ihre Kunst zu genießen. Es nagte an meinem Stolz, keinerlei Erklärungen zu finden und, was weit schwerer wog: Ich sah immer weniger Sinn in meinen eigenen stümperhaften Tricksereien. Warum sollten sich Menschen dafür interessieren, wie ich Seidentücher in falsche Plastik-Daumen stopfte, wenn hier eine Frau lebte, die wahre Wunder vollbringen konnte?
Kurz vor Mitternacht sank Galducci schwer atmend auf einen Stuhl in der Bibliothek. Auf den Wegen von Raum zu Raum hatte ich immer wieder Angst gehabt, sie würde in meinen Armen zusammenbrechen. Auch waren mir die Spritzen und Gurte nicht entgangen, die im Alchemie-Raum fast provokant, offen neben einem Waschbecken gelegen hatten. Es schien mir ein Wunder zu sein, dass diese Frau überhaupt noch atmete. Bestimmt zehn Minuten saßen wir uns schweigend gegenüber. Dann fragte sie:
„Sind Sie ein Zauberkünstler, junger Mann?“
„Das haben Sie sofort gewusst, oder?“
„Meistens sind es die Zauberkünstler, die verzagen, wenn sie mich besuchen. Ich bin keine herzlose Frau. Wenn Sie es wirklich wünschen, verrate ich Ihnen mein Geheimnis. Vielleicht beruhigt Sie das. Ich biete es nur solchen Gästen an, die nicht glücklich sind, nach dem, was sie bei mir erlebt haben. Das ist selten. Sie müssen natürlich Stillschweigen versprechen.“
„Keine Sorge“, sagte ich, obwohl ich schon jetzt bezweifelte, dass ich mein Versprechen halten würde. Galducci lächelte, stand auf und ging erstaunlich sicheren Schrittes ans andere Ende des Raumes. Sie zog einen grünen Samt-Vorhang zur Seite, der zwischen zwei Bücherregalen angebracht war. Dahinter kam eine Tür zum Vorschein, kleiner und schlichter als die übrigen Türen des Hauses.
„Folgen Sie mir!“
Im Aufstehen fiel mein Blick auf ihre Kognakflasche, die sie im Laufe des Abends fast vollständig geleert hatte. Sie schien nichts dagegen zu haben, also probierte ich einen Schluck. Nun begann ich zu ahnen, worin ihr Geheimnis bestand: Einem todkranken Menschen, einer Abhängigen, einer Frau mit dunklem Laster glaubte ich umso bereitwilliger, dass sie über göttliche Mächte verfügte. Sie hatte dafür „bezahlt“. Doch die Madame war kein heimlicher Junkie, keine heimliche Alkoholikerin. Im Gegenteil: Sie trank heimlich Kräutertee.
Ihre magischen Methoden – ihre Tricks – erwiesen sich als ähnlich profan. Sie waren clever. Aber nicht übernatürlich. Die Aura eines Menschen, der gewissermaßen mit dem Teufel im Bunde stand, hatte mich geblendet.

Das Ende der Geschichte ist bekannt. Mein Artikel im Poročevalec trat eine Lawine los, welche Galduccis Ansehen binnen einer Woche zertrümmerte. Ihre ehemals schweigsamen Kunden – nun buchstäblich enttäuscht – zerrissen sich das Maul über sie, aus den sozialen Netzwerken hagelte es Zorn und Spott und die wenigen Menschen, die sie trotz allem respektierten, behielten das für sich. Ich selbst profitierte in mehrfacher Hinsicht: Eine überragende Konkurrentin war aus dem Weg geräumt, die Enthüllungen brachten meinen Namen ins Gespräch und ich konnte Galduccis Werk ausschlachten. Bis heute gehen meine erfolgreichsten Kunststücke auf sie zurück.

Auch wenn ich nie wieder etwas von der Madame gehört habe, nehme ich an, dass sie noch viele Jahre gesund und vielleicht sogar glücklich leben wird. Zu gönnen wäre es ihr.

  • Yann Yuro 2015-2020